Das alte Schulgebäude in Herrenzimmern anno 1919. Hier unterrichtete Hermann Schlaich. Foto: Schwarzwälder Bote

Vor 100 Jahren: Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar / Sieg der Weimarer Koalition / Notizen von Lehrer Schlaich

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Aus der Monarchie und der Ausrufung der Republik besaß Deutschland im Winter 1918/1919 die Gelegenheit zu einem demokratischen Neuanfang. Wichtiger Baustein war die Wahl zur Nationalversammlung.

Bösingen-Herrenzimmern. Das Tagebuch von Lehrer Hermann Schlaich (Jahrgang 1883), der von 1914 bis 1929 in Herrenzimmern lebte und wirkte, hat Heimatforscher Karl Kimmich (Oberndorf) für den Herrenzimmerner Geschichts- und Kulturverein gesichtet und unlängst einen ersten Teil davon in der Vereinszeitschrift "Der Löwe brüllt" in Auszügen veröffentlicht.

Schlaichs Notizen geben einen Eindruck vom Leben auf dem Lande vor etwa 100 Jahren. Jenseits der lokalen Denkwürdigkeiten und Gepflogenheiten vermitteln sie ein Stimmungsbild, wie der Krieg und sein Verlauf in Herrenzimmern wahrgenommen wurde.

Aber auch wie Schlaich – er wurde am 1. Mai 1916 eingezogen, er kam im August an die Ost- und im Februar 1917 an die Westfront, durfte schließlich im November 1918 heimkehren und wurde am 16. Dezember 1918 in Rottweil aus dem Heer entlassen – die unmittelbare Nachkriegszeit erlebt hat.

Gewisse Ernüchterung

Die Siegesgewissheit und Begeisterung während des Krieges schien in Herrenzimmern entgegen der allgemeinen Euphorie – derjenigen, die daran glaubten, derjenigen, die Hurra-Stimmung erzeugten, der Fähnlein-in-den-Wind-Hängenden, der Opportunisten, und derjenigen mit wenig Verstand – einer gewissen Ernüchterung gewichen zu sein.

So notierte der Dorfschullehrer 1916: "Unsummen Geldes verschlang der Krieg, aber immer spärlicher flossen die Geldquellen. Dem Volk dauerte der Krieg allmählich zu lange. Auch der gewöhnliche Mann sah ein, dass an einen Endsieg kaum mehr zu denken sei, und jedermann sagte sich: das Geld für die Weiterführung des Krieges ist nutzlos vergeudet."

Dennoch engagierten sich Schultheiß (Thomas Seifried) und Lehrer ("dem Zwange gehorchend, nicht dem eigenen Triebe"), nachdem sie in Rottweil bei einer Versammlung der Ortsvorsteher, Pfarrer und Lehrer "motiviert" wurden und den Auftrag erhielten, das Volk zu weiteren Kriegsanleihen-Zeichnungen zu überzeugen.

Bei seinen Zuhörern schien Schlaich kaum Begeisterung geweckt zu haben. Ehrsame Bauern sagten ihm: "Wir gewinnen den Krieg doch nicht, und das Geld ist dann verloren." Andere äußerten, die Soldaten schrieben, man solle keine Kriegsanleihe mehr zeichnen, dann höre der "Schwindel" von selber auf. Schlaich zeichnete "trotz allem abermals 200 Mark als Kriegsanleihe". Am 21. März konnte er 901 Mark, von den Schülern aufgebracht, in Rottweil einzahlen.

Nach dem 11. November

Wie es weiterging, ist bekannt: Der Weltkrieg endete mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918, der Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten. Und das Geld? Es war nicht das einzige, was nach 1918 verloren ging. Neben Leben, Gesundheit, Land, Hab und Gut schaffte es spätestens die Hyperinflation des Jahres 1923 das Ersparte von Millionen in Luft aufzulösen.

Doch soweit war es Anfang 1919 noch nicht. Nachdem die alten Mächte gestürzt wurden oder geflohen waren, durften die Bürger am 19. Januar die Nationalversammlung wählen. Aus mehrfacher Sicht ein besonderer und positiver Tag – fast auf den Tag genau vor 100 Jahren.

Im Gegensatz zum linken Flügel der USPD, einer Linksabspaltung von der SPD, und der Spartakusgruppe, deren Mitglieder in Teilen mit den Vorgängen in der Sowjetunion sympathisierten, erwiesen sich in Berlin Mitte Dezember die Ansichten des "Rat der Volksbeauftragten" und von Reichskanzler Friedrich Ebert (SPD) beim Reichsrätekongress als mehrheitsfähig. Der Weg zu einer parlamentarischen Demokratie war somit gebahnt.

Frauen und Soldaten

So wurde am Sonntag, 19. Januar 1919, die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt. Es galt nach der Wahlordnung vom 30. November 1918 erstmals reichsweit ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht für Bürger ab dem 20. Lebensjahr (bisher ab dem 25. Jahr). Zum ersten Mal konnten somit auch Frauen und Soldaten wählen.

Da die Nationalversammlung wegen der Unruhen und Kämpfe in Berlin ab dem 6. Februar in Weimar tagte und eine neue Verfassung zustande brachte, die als die freieste der ganzen Welt von Schlaich bezeichnet wurde – worin er nicht ganz unrecht hatte; sie war so frei, dass sie in den turbulenten Jahren ab 1930 ihren Feinden von links (Kommunisten) und rechts (Nationalsozialisten) wenig bis nichts entgegensetzte und nach dem 30. Januar 1933 de facto außer Kraft gesetzt wurde –, begann im Prinzip ab dem 11. August 1919, als sie in Kraft trat, die kurze Epoche der Weimarer Republik.

Wahlgewinner waren die Parteien der sogenannten Weimarer Koalition: die Sozialdemokraten 37,9 Prozent, die katholische Zentrumspartei 19,7 Prozent plus BVP (Bayerische Volkspartei) und die DDP, die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, 18,6 Prozent. Somit also ein Entscheid gegen ein Rätesystem und gegen die Monarchie. Die Wahlbeteiligung lag bei 83 Prozent; zwar etwas niedriger als noch bei der Reichstagswahl 1912 (84,9 Prozent), aber es wurden wegen des neuen Wahlrechts etwa 20 Millionen Stimmen mehr abgegeben.

Karl Kimmich hat nach den Unterlagen der Schwarzwälder Bürgerzeitung die Ergebnisse der Wahl für Herrenzimmern, Bösingen, Rottweil und des Oberamts Rottweil notiert.

Herrenzimmern wählt

In Herrenzimmern (Wahlbeteiligung 89 Prozent) gab es drei Stimmen für die DDP (1 Prozent), 256 für das Zentrum (86 Prozent), 36 für die SPD und die USPD (12 Prozent) sowie zwei (1 Prozent) für die Bürgerpartei mit Bauern- und Weingärtnerbund (in gewisser Weise eine Interessenpartei von Protestantismus und Landwirtschaft, die in Flözlingen auf 16 Prozent kam, das Zentrum, Vertreter des politischen Katholizismus, erhielt dort keine Stimme).

Bösingen und Rottweil

In Bösingen (84 Prozent Wahlbeteiligung) lautete das Wahlergebnis wie folgt: 25 Stimmen für die DDP (7 Prozent), 320 für das Zentrum (79 Prozent), 52 für die SPD mit USPD (13 Prozent) und eine für die Bürgerpartei mit Bauern- und Weingärtnerbund (1 Prozent).

In Rottweil (91 Prozent Wahlbeteiligung) lautete es: 860 für die DDP (16 Prozent), 2841 für das Zentrum (56 Prozent), 1131 für die SPD mit USPD (21 Prozent) sowie 347 für die Bürgerpartei mit Bauern- und Weingärtnerbund (7 Prozent); und im Oberamt Rottweil (90 Prozent Wahlbeteiligung): 3481 für die DDP (15 Prozent), 9508 für das Zentrum (40 Prozent), 9842 für die SPD mit USPD (41 Prozent) und 856 Stimmen für die Bürgerpartei mit Bauern- und Weingärtnerbund (4 Prozent).

Diese Mehrheit für die Demokratie hielt allerdings nicht lange. Sie bröckelte bereits bei den ersten Reichstagswahlen am 6. Juni 1920. Aus den 76,2 Prozent im Reich wurden 43,6. Ein Grund von mehreren war der Versailler Friedensvertrag, unterschrieben am 28. Juni 1919, der vor allem dem Ansehen von SPD und DDP Schaden zugefügt hatte.

Getreide und Mehl

Die weiterhin kargen Lebensverhältnisse in Deutschland – hier machte Herrenzimmern keine Ausnahme – und eine weltweite Grippewelle setzten der Bevölkerung zu. Schmalhans war Küchenmeister, und Hermann Schlaich "durfte" als Lehrer, als Respektsperson, ein pikantes Amt antreten: der Bestandsaufnahme von Getreide und Mehl ab dem 23. Januar 1919, um die Ernährung sicherzustellen.

Schlaich wurde etwa eine Woche in Villingendorf eingesetzt. Zwei Schätzer, Bauern aus Nachbardörfern, und die Ortspolizei waren ihm beigegeben; beobachtet wurde das Team von einem Oberregierungsrat von der Kreisregierung in Reutlingen und dem Stationskommandanten aus Rottweil.

Ihm schien der Spagat gelungen zu sein. Von Haus zu Haus ging es. Er überzeugte die hohen Herren von seiner Staatstreue und die Bauern von Villingendorf. Dank konzilianter Handhabung der Vorgaben mussten die Einheimischen nicht über Gebühr Nahrungsmittel an den Kommunalverband abliefern. So wurden Unruhen, die es andernorts gegeben hat, vermieden.

Von den 118 Mark, die er für jene Tätigkeit erhielt, konnte er sich für 100 Mark im März 1919 in der Stadtdrogerie in Rottweil einen Plattenapparat (JKA Sirene) kaufen und sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen. In den Folgejahren frönte er seinem Hobby, dem Fotographieren, ausgiebig. Er durfte der Erste mit Fotoapparat in Herrenzimmern gewesen sein. Die meisten Glasnegative wurden jedoch 1945 von der amerikanischen Besatzung seines Hauses in Ulm – dorthin wurde er 1929 als Oberlehrer versetzt – mutwillig zerstört, notierte Schlaichs Sohn Gerold.

Heimkehrer begrüßt

Erwähnenswert mit Blick auf den Januar vor 100 Jahren sind sicherlich noch drei Daten. So wurden am 26. Januar alle heimgekehrten Kriegsteilnehmer von Herrenzimmern begrüßt. Nach dem Festgottesdienst bewirtete die Gemeinde sämtliche Ausmarschierten im "Kreuz" durch ein Festmahl. Abends fand im "Pflug" die eigentliche Feier statt, so Schlaich. Eine Ansprache hielt Pfarrer Seemann aus Bach bei Ehingen, ein Sohn der Gemeinde, da Pfarrer Kramer als Redner altershalber nicht mehr fungieren konnte.

Politischer Mord

Am 15. Januar wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemberg, führende Personen der Spartakusgruppe, in Berlin von fanatisierten Soldaten ermordet. Obwohl sie nicht an einen Putsch dachten. Rosa Luxemburg lehnte einen solchen sogar ab und vertrat – im Gegensatz zu Lenin – immer die Ansicht, eine Revolution könne man nicht machen, sie passiere einfach. Mit Demonstrationen, Steuerverweigerungen und Streiks wollte sie ihre Ziele durchsetzen.

Der 18. Januar

Wer ein Faible für Daten hat, kann den 19. Januar als kleinen ironischen Seitenhieb der Geschichte deuten. Weil Wahlen an Sonntagen stattfinden, schrammte somit die allererste Wahl heutiger Couleur nur um einen Tag am 18. Januar vorbei. Ein Datum, das von vielen Deutschen (und Franzosen) vor 100 Jahren mit ganz anderen Erinnerungen verknüpft war.

Am 18. Januar 1701 krönte sich Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg zum König in Preußen (Friedrich I.), wodurch aus dem Herzogtum ein Königreich wurde. Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König Wilhelm I. nach dem Sieg im 70er/71er-Krieg im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Kaiser ausgerufen. Prunkvoll trat damit das deutsche Kaiserreich in die Geschichte ein, nachdem das Empire von Kaiser Napoleon III. am 4. September 1870 von der französischen Republik abgelöst wurde. Und am 18. Januar 1919 begann aber auch – auf französisches Betreiben – die Friedenskonferenz der Siegermächte in eben jenem Spiegelsaal, in dem der Vertrag am 28. Juni unterzeichnet wurde. Aber dies ist ein anderes Thema.