Auch, wo weniger reichen würde, fahre in Deutschland ein Rettungswagen los, nicht nur bei Notfällen. Foto: Imago/Future Image/Imago/Sebastian Gabsch

Es gibt genug Ressourcen. Doch Struktur und Organisation des Rettungswesens müssten völlig umgebaut werden, fordert der Chef der Björn-Steiger-Stiftung.

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ein Vater habe ihn schon vor Jahren bei der Staffelübergabe gewarnt, sagt Pierre-Enric Steiger. Damals hat der Sozialunternehmer von seinen Eltern Siegfried und Ute die Verantwortung für die Björn-Steiger-Stiftung übernommen. „Der Beton in den Behörden ist härter geworden und die Bretter noch dicker als in den 1970er Jahren“, habe ihm sein Vater 2010 mit auf den Weg gegeben. Beide Elternteile sind voriges Jahr kurz nacheinander gestorben.

Geblieben ist der Beton und ein Sohn, der ihn aufbrechen will. Die Stiftung war so etwas wie der Startschuss für ein modernes Rettungswesen in Deutschland. Ins Leben gerufen wurde sie 1969 mit dem Tod von Björn Steiger. Der damals achtjährige Bruder von Pierre-Enric wurde von einem Auto überfahren. Der Rettungswagen kam für den Buben zu spät. Vor einem halben Jahrhundert war das Rettungswesen nicht mehr als Krankentransport. Bei Björn traf er nach einer Stunde ein, was seinerzeit schnell war. Björns Tod war kein tragischer Unfall, sondern ein Fehler im System.

Kleinstaaterei in Deutschland

Bald nach dem Schicksalsschlag gründeten dessen Eltern die nach ihrem Sohn benannte Stiftung, um ein zeitgemäßes Rettungswesen zu schaffen. Das gelang gegen politische Beharrungskräfte mit Notruftelefonen, den einheitlichen Nummern 110 und 112, Luftrettung und dem ersten deutschen Rettungsdienstgesetz. Die Zeiten haben sich heute geändert, möchte man meinen.

Stiftersohn Pierre-Enric widerspricht. „Die Revolution, die es vor über 50 Jahren gegeben hat, braucht es nun wieder, nur ist es jetzt ungleich schwieriger“, bedauert der 52-jährige. Sein Vater habe damals noch eine grüne Wiese vorgefunden, wo man ohne Altlasten Neues habe errichten können. Heute aber gebe es einbetonierte Strukturen und bremsende Besitzstandswahrer. Vom Vorbild zum Nachzügler sei Deutschland EU-weit in Sachen Rettungswesen verkommen.

„Es ist traurig, dass sich die Geschichte wiederholt“, sagt der Sozialunternehmer. Das heutige Rettungssystem hält er nicht mehr für reformierbar. Es müsse von Grund auf neu gebaut werden, wie es andernorts längst geschehen sei. „Es beginnt mit den Leitstellen“, erklärt Steiger. 238 davon leiste sich Deutschland. Das seien fast so viele wie in der restlichen EU sonst insgesamt. Doch im Gegensatz zu deutschen Rettungsleitstellen hätten die auch den Charakter von Gesundheitsleitstellen. Sie seien digitalisiert und per Cloud vernetzt.

In Deutschland ende oft schon an Landkreisgrenzen die Durchgängigkeit. Wenn der Experte das hiesige Rettungswesen beschreibt, fallen Worte wie „zersplittert“, „unkoordiniert“, „technologisch veraltet“. In Deutschland könne eine Leitstelle nur einen Rettungswagen oder Hubschrauber schicken. Im EU-Ausland hingegen könnten Gesundheitsleitstellen auch einen Pflegedienst vorbeischicken, einen Termin beim Hausarzt blocken oder telemedizinisch Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Auch, wo weniger reichen würde, fahre in Deutschland ein Rettungswagen los, nicht nur bei Notfällen. „Wir überlasten unser System mit Unnötigem“, kritisiert Steiger.

Das Ausland macht es besser

Weil das System immer häufiger an seine Grenzen stoße, verlange man reflexhaft nach immer mehr Rettungswagen und mehr Personal, das es aber nicht gebe. Erfahrungen im Ausland zeigten, dass zentralisierte Gesundheitsleitstellen mit Zugriff auf Gesundheitsdaten und Vernetzung mit Gesundheitsdiensten aller Art nicht nur zu besserer Qualität im Rettungswesen, sondern auch zu niedrigeren Kosten führe.

In Deutschland herrsche Kleinstaaterei auf Landkreisebene, kritisiert Steiger. Datenschutz diene als Ausrede. Andere EU-Staaten hätten ihre Rettungsdienste völlig datenschutzkonform aufgebaut. „Datenschutz darf kein Menschenleben gefährden.“

Um Abhilfe zu schaffen, hat seine Stiftung dieses Jahr die Kampagne „Rettet die Retter“ gestartet und dabei politisch geteiltes Echo gefunden. „Die Bundespolitik hat es verstanden“, sagt der Stiftungschef. In den Bundesländern sehe es dagegen anders aus. Dort verschanze man sich hinter dem Föderalismus und wolle weiter nichts ändern. „In Deutschland dürfen nicht einmal Notfallsanitäter bundeseinheitlich ihre Kompetenzen nutzen“, wettert Steiger.

Von Landkreis zu Landkreis ändere sich, was ihnen erlaubt ist und was nicht. Er kennt einen Fall, in dem der Notfallsanitäter eine lebensrettende Spritze nicht setzen durfte, was im Landkreis nebenan erlaubt gewesen wäre. Der betroffene Patient starb. „Wir haben mit die besten Helfer und die besten Rettungswagen, aber das schlechteste System“, bilanziert der Experte und befürchtet ohne radikalen Kurswechsel einen baldigen Totalschaden. Die Hoffnung auf Einsehen gibt er nicht auf. „Wenn alle wollen, können wir unser System innerhalb von vier Jahren intelligent umbauen“, schätzt Steiger und wirkt dabei so kämpferisch, wie seine Eltern es vor gut 50 Jahren waren.

Björn-Steiger-Stiftung

Gründung
Am 7. Juli 1969 haben die Eltern des kurz zuvor bei einem Autounfall verstorbenen Björn Steiger die nach ihrem Sohn benannte Stiftung gegründet, um eine Notfallhilfe in Deutschland aufzubauen.

Finanzierung
 1972 verpfändeten die Steigers ihr Wohnhaus, um einen Rettungshubschrauber zu finanzieren. Der einzige dieser Art war kurz zuvor abgestürzt. Die Stiftung finanziert sich ansonsten über Spenden. Bezahlt wurden damit etwa bundesweit 50 000 Defibrillatoren für den öffentlichen Raum, um plötzlichen Herztod zu bekämpfen.