Ingenieure prüfen die Baustelle des Teilabschnitts "Sedrun" im Gotthard-Basistunnels Foto: dpa

57 Kilometer Länge, 18 Jahre Bauzeit: Der Gotthard-Basistunnel - ein gigantisches Projekt.

Sedrun - 57 Kilometer Länge, 50 Jahre Planung, 18 Jahre Bauzeit und Kosten von mehr als neun Milliarden Euro. Hört sich fast an wie Stuttgart 21, ist aber ein ungleich größeres Eisenbahnbauprojekt - und weit weniger umstritten: der neue Gotthard-Basistunnel. Ein Besuch auf der größten Tunnelbaustelle der Welt.  
Der Himmel ist wolkenverhangen an diesem Morgen in Sedrun. Ruhig, fast beschaulich geht es auf dem riesigen oberirdischen Baugelände zu. Die wenigen Arbeiter, die uns zwischen den mehr als 50 Wohncontainern begegnen, lächeln, machen einen entspannten Eindruck. Die gute Laune hat einen Grund: Die Mineure sind mit ihrer Arbeit unter Tage voll im Zeitplan.

Hier soll die Tunnelbohrmaschine Sissi in der Oströhre den Durchschlag vollenden - ein Weltrekord und ein Jahrhundertwerk der Ingenieurkunst. Noch nie wurde auf der Welt ein so langer Tunnel gegraben. 57 Kilometer lang sind die beiden einspurigen Röhren und damit sieben Kilometer länger als der Euro-Tunnel, der Großbritannien mit dem europäischen Festland verbindet. In der Weströhre wird es noch bis zum Frühjahr 2011 dauern, ehe die Abschnitte Sedrun und Faido verbunden werden.

Enorme Kosten

Schon die Anreise in den Bauch der Erde ist abenteuerlich: In einer Baracke ziehen wir orangefarbene Overalls und Gummistiefel an, dazu Helm, Grubenlampe und einen sogenannten Selbstretter-Rucksack mit einem Notfall-Atemgerät. Mit einem Schrägaufzug ähnlich einer kleinen Standseilbahn geht es gut 40 Meter hinunter auf das oberirdische Baufeld. Dort zwängen wir uns auf die Holzpritschen der Stollenbahn, die uns laut ratternd gut einen Kilometer zum Schachtkopf in den Berg bringt. Schon wenige Meter nach der Einfahrt huscht in einer Nische im Fels eine angeleuchtete Statue der heiligen Barbara vorbei, der Schutzpatronin der Bergleute. Glück auf!

Dann heißt es wieder umsteigen. Mit einem großen Transportaufzug, der im Fachjargon Seilfahrtsanlage heißt, weil er an einem Seil hängt, rauschen wir 800 Meter in die Tiefe. Es ist stockdunkel, einzig unsere Grubenlampen geben ein wenig Orientierung. Die Fahrt dauert nicht einmal anderthalb Minuten. Mit zwölf Metern pro Sekunde bringt uns der große Stahlkorb nahezu geräusch- und erschütterungsfrei hinunter auf das eigentliche Tunnelniveau, ins Herz der Baustelle. Hier öffnet sich die gewaltige Multifunktionsstelle, ein Labyrinth aus Tunneln, Querungen, Gängen und Schächten. Zwei von vier Nothaltestellen werden hier eingerichtet, bei Sanierungsarbeiten oder einem Notfall können die Züge in diesem Bereich später von einer Röhre in die andere wechseln.

Nach den ursprünglichen Plänen sollte hier in der Mitte des Tunnels auch die Porta Alpina entstehen, eine unterirdische Bahnstation zur Anbindung des Ortes Sedrun und der ganzen Surselva im Westen Graubündens ans europäische Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz. Doch schon im September 2007 platzte der Traum von der tiefsten Bahnstation mit dem höchsten Lift der Welt. Mit geschätzten Kosten von 50 Millionen Franken (37,5 Millionen Euro) wäre der Bau zu einem "nicht verkraftbaren Risiko" geworden, sagte der Bündner Regierungsrat Stefan Engler. Auf 12,2 Milliarden Franken (9,15 Milliarden Euro) hat die Projektgesellschaft Alp Transit Gotthard die Kosten für die Gotthard-Achse beziffert. Das war der Preisstand im Jahr 1998 ohne Mehrwertsteuer, Zinsen und Teuerung. "Derzeit sind wir bei etwa 130 Punkten", sagt Renzo Simoni, Chef der Alp Transit AG, sprich 15,86 Milliarden Franken (11,9 Milliarden Euro). Finanziert wird der Bau aus der Schwerverkehrsabgabe, die Lastwagen beim Transit durch die Schweiz bezahlen müssen, der Mineralöl- und der Mehrwertsteuer.

"Stuttgart21 würde mich schon noch interessieren"

Trotz der enormen Kosten steht die Schweizer Bevölkerung - anders als bei Stuttgart 21 - hinter dem Großprojekt. Das Stimmvolk votierte mit deutlicher Mehrheit 1992 für den Bau der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (64 Prozent) und 1998 für die Finanzierungsvorlage (63,5 Prozent). "Wir sind froh, dass das Stimmvolk das Projekt mehrfach mit großer Zustimmung gutgeheißen hat", sagt Simoni, "das gibt uns Rückhalt." Mehr als 1900 Mineure, Schlosser, Stahl- und Betonbauer, Elektriker, Bauingenieure und Geologen arbeiten derzeit auf den sieben Baustellen des Basistunnels. Der größte Teil von ihnen, 465, kommt aus Österreich. Nach den Italienern (338) stellen die Deutschen mit 325 Arbeitern bereits die drittgrößte Gruppe der im Tunnel Beschäftigten, noch vor den Schweizern selbst (263).

Einer von ihnen ist Ronny Kanter aus dem brandenburgischen Spreewald. "Erstens ist der Job in der Schweiz besser bezahlt", nennt der 35-jährige Betonbauer den Hauptgrund, warum er seit Oktober 2005 im Gotthard-Tunnel arbeitet, "zum anderen bin ich schon vor Jahren noch in Deutschland in den Tunnelbau reingerutscht, und dann zieht man eben von einer Baustelle zur anderen." Seit seine Lebensgefährtin, die in der Gastronomie arbeitet, ebenfalls nach Sedrun gezogen ist, hat er den Wohncontainer auf der Baustelle gegen eine kleinen Wohnung in dem 1800-Einwohner-Dorf getauscht. Die Freundin lebt mit dem zwei Jahre alten Kind inzwischen wieder in der brandenburgischen Heimat. Besuch vom Papa bekommt die Familie alle eineinhalb Wochen. Dann hat Ronny Kanter nach zehntägigem Schichtdienst fünf Tage frei.

"Stuttgart21 würde mich schon noch interessieren"

"Der Gotthard ist bis jetzt die Krönung der beruflichen Laufbahn", sagt er. Der anfängliche Stolz, im längsten Tunnel der Welt zu arbeiten, habe sich aber inzwischen gelegt. "Nach fünf Jahren ist es eben eine Baustelle wie jede andere auch." Noch gut zwei Jahre will der 35-Jährige, der schon in Rheinfelden, Nürnberg und im österreichischem Montafon Tunnels gebaut hat, in Sedrun bleiben. Dann werden die Betonarbeiten abgeschlossen sein. Wohin dann die Reise geht? "Stuttgart21 würde mich schon noch interessieren - wenn's denn gebaut wird", sagt Kanter, der die Diskussionen und Demonstrationen aufmerksam im Fernsehen verfolgt. "Von Stuttgart ist es auch nicht mehr ganz so weit nach Hause."

Je näher wir zum Vortrieb kommen, umso wärmer wird es. Spätestens jetzt erweist sich der Tipp von Hans Weber als richtig, bis auf die Unterhose möglichst nichts unter dem orangefarbenen Overall zu tragen. Weber ist leitender Bauingenieur am sogenannten Zwischenangriff Sedrun. Jahrzehntelang hat der 50-Jährige, der in Aachen Bergbau studierte, Bergwerke gebaut, ehe ihn der Strukturwandel im Kohlenpott in den Tunnelbau trieb. Die Temperatur steigt auf 30 Grad, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Ganz vorne, wo gesprengt wird, herrschen 45 Grad. Hinzu kommen mehr als 100 Dieselmaschinen, die zusätzlich Wärme erzeugen. Riesige Zu- und Abluftschläuche kühlen die Luft auf 28 Grad herunter.

Fräsen oder sprengen - das entscheidet einzig und allein der Berg. Sprengen bedeutet Langsamkeit: Die Mineure auf Sedruner Seite schaffen in 24 Stunden vier bis fünf Meter. Doch ein Bohrkopf bliebe im bröckligen und druckhaften Gestein stecken. Von Faido her rücken die Arbeiter aus dem Süden dank Sissi bis zu 20 Meter täglich vor. Nur 200 geladene Gäste können dabei sein, wenn die Tunnelbohrmaschine mit ihren 60 Meißeln am Bohrkopf ein letztes Mal andreht und den verbliebenen 100 Zentimeter Gestein mit 25 Tonnen Druck zu Leibe rückt. Allerdings: Ein kleines Loch gibt es bereits, und es zog auch schon frische Luft durch den Berg. Sechs Zentimeter ist die Öffnung groß, die Bergleute aus Sedrun zu ihren Kumpel aus Faido bohrten. Ihr Zweck: Das Kabel für die Liveübertragung der Durchschlags-Feier soll hindurchgesteckt werden.