Tatort Bahnhof: An dieser Stelle soll ein 27-Jähriger im Oktober über eine junge Frau aus Ebingen hergefallen sein. Seit Mittwoch wird der Fall vor dem Landgericht Hechingen verhandelt. Foto: Maier

17-Jährige schildert bei Prozessauftakt, wie sie durch Zufall Opfer wurde. Angeklagter bestreitet Tat.

Balingen/Hechingen - Auf dem Flur umarmt die junge Frau ihre Mutter. Sie reden miteinander, die Verhandlung ist gerade unterbrochen. Wenige Minuten später legt die 17-Jährige am Mittwochvormittag ihre Aussage vor der Großen Strafkammer am Landgericht Hechingen ab – über einen Vorfall, der sie wohl noch lange beschäftigen wird. Am Abend des 13. Oktober 2017 wurde sie, so steht es in der Anklage, gegen 21 Uhr am Balinger Bahnhof Opfer eines sexuell motivierten Übergriffs.

Der Vorfall hat nicht nur das Leben der 17-Jährigen verändert, er hat in Balingen auch eine breite Diskussion ausgelöst, in der sich viele Dinge miteinander mischen. Weil der mutmaßliche Täter ein junger Mann aus Somalia ist, geht es um die Kriminalität von Ausländern und Flüchtlingen. Weil er sich an einer prominenten Stelle Balingens zugetragen hat, geht es um die Frage der Sicherheit in der Stadt – dies auch deshalb, weil der Bahnhofseigentümer Peter Seifert, der ebenso als Zeuge aussagt, diese Diskussion nicht zuletzt durch einen Leserbrief angefeuert hat, in dem er die angebliche Vorführung des Rechtsstaats anprangerte. Immerhin: In diesem Fall funktioniert der Rechtsstaat recht gut, der mutmaßliche Täter kam in Haft, der Prozess hat schnell begonnen.

Neun Tage vor der Tat kam er nach Deutschland

Die allgemeine Debatte in Balingen und die von vielen gefühlte zunehmende Kriminalität ist in der Verhandlung unter dem Vorsitz von Richter Breucker kein Thema. Es geht allein um den Übergriff am Abend des 13. Oktober, und dabei geht es stur nach "Schema F" der Justizbehörden: Zunächst verliest Staatsanwalt Engel die Anklage. Vorwurf: sexuelle Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung. Dann wird der Angeklagte befragt. Lange befragt. Für die Angehörigen so lange, dass es für sie fast schon unerträglich scheint.

Der 27-Jährige stammt aus Somalia, ist verheiratet, Vater eines Sohns und einer Tochter. Er ist in ärmlichen Verhältnissen zusammen mit sieben Geschwistern aufgewachsen, hat nur ein Jahr eine Schule besucht, wurde im Alter von zwölf Jahren "Kindersoldat", wie er am Mittwoch aussagte. Gekämpft habe er selbst zwar nicht; seine Truppe unter dem Befehl des Provinzchefs sei aber gegen islamistische Terroristen vorgegangen. 2014 wurde er durch die Bombe eines Selbstmordattentäters schwer verletzt, lag eineinhalb Jahre im Krankenhaus, ehe er seine Flucht in Richtung Europa antrat. Sein Ziel: die Schweiz, wo zwei seiner Geschwister leben, ein besseres Leben.

Über Italien kam er nach Deutschland, am 5. Oktober 2017 – und damit nur wenige Tage vor dem Vorfall in Balingen – wurde er in der Erstaufnahmestelle Heidelberg registriert. Am Tattag, 13. Oktober, wollte er nach Genf zu seinen Familienangehörigen, stieg allerdings in Stuttgart in den falschen Zug und landete in Balingen. Sein und das Leben der 17-Jährigen würde wohl ganz anders verlaufen, wäre er am richtigen Gleis eingestiegen.

Zum Vorwurf gibt der 27-Jährige eine Erklärung über seinen Verteidiger Kästle ab: Er räumt ein, dass es zu einem Kontakt mit der 17-Jährigen gekommen ist, es ging um eine Zigarette. Auch einen Schubser gibt er später zu. Dass er sie aber angegriffen und sexuell genötigt haben soll, das bestreitet er vehement. Damit habe er nichts zu tun. Er sei unschuldig.

Ganz anders geht die Darstellung der jungen Frau aus Ebingen. Am Tattag fuhr sie demnach mit dem Zug nach Balingen, mit Freunden wollte sie ins Kino. Am Bahnhof in Balingen habe sie gewartet, den Somalier gesehen und ihn nahe dem Fahrkartenautomaten an Gleis 1 um eine Zigarette gebeten. Er habe keine für sie gehabt. Stattdessen habe er versucht, sie zu küssen. Sie sei davongelaufen, am Gleis 1 entlang in Richtung Busbahnhof und Kino, nur weg von dem Typ. Dieser allerdings sei ihr hinterhergelaufen, habe sie an der Nordseite des Gebäudes zu Boden geworfen, geschlagen, sie geküsst. Er sei mit den Händen unter ihren Pulli, habe versucht, ihre Hose zu öffnen, sie oberhalb der Bekleidung im Intimbereich berührt und sich an ihr gerieben. Mit ihrem Schal habe der junge Mann ihr Mund und Nase zugedrückt, so dass sie keine Luft mehr bekam. "Ich dachte, es ist vorbei, ich hatte Todesangst", sagte die 17-Jährige vor Gericht.

Zwei Männer will sie gesehen haben, die das Geschehen beobachteten und trotz ihrer Hilferufe und Schreie nicht eingriffen – angeblich, weil der mutmaßliche Täter den Passanten bedeutete, dass sie seine Freundin sei. Ein dritter Mann allerdings verstand die Situation nicht falsch: Er war in der Toilettenanlage nahe dem Busbahnhof und wollte zum Bahnhof zurück, als er das Geschehen bemerkte und sofort Hilfe rief. Bahnhofs-Chef Peter Seifert eilte hinaus und zerrte den Mann, der noch auf der 17-Jährigen lag, von ihr weg; der Koch des Bahnhofs-Cafés rief die Polizei.

Richter Breucker lobt Zivilcourage

Etwa 20 Minuten habe es gedauert, bis die Streife eintraf, sagte Seifert am Mittwoch. So lange habe er den mutmaßlichen Täter festgehalten. Richter Breucker dankte Seifert, dem Koch sowie dem Mann, der Hilfe holte, ausdrücklich für ihr Eingreifen: "Diese Zivilcourage ist nicht selbstverständlich."

Dass es zu mehr als dem "Schubser" gekommen ist, den der 27-Jährige einräumt, das legen derweil DNA-Spuren nahe, die an der jungen Frau sichergestellt wurden. Die 17-Jährige wirkt mit ihrer Aussage vor Gericht zudem sehr überzeugend: Mit fester Stimme beschreibt sie das Geschehen. Ebenso schildern es Polizeibeamte, die die ersten Vernehmungen vornahmen: Die 17-Jährige habe zwar zunächst verstört gewirkt, in der folge aber sei ihre Aussage absolut glaubhaft gewesen.

Weitere Polizisten werden am nächsten Verhandlungstag, Dienstag, 13. März, ab 9 Uhr am Landgericht Hechingen gehört. Möglicherweise fällt an diesem Tag dann das Urteil.