"Wir haben manch eine Bewegung kommen und gehen sehen": die Montagsdemonstranten am Balinger Stadtbrunnen. Foto: Wagener

Schlechtes Wetter spielt für sie keine Rolle: ein Besuch bei den Demonstranten am Balinger Stadtbrunnen.

Balingen - Balingen am vergangenen Montag, kurz vor 18 Uhr: Es regnet, das Thermometer zeigt knapp über Null. Ab und an huscht jemand über die Friedrichstraße, ansonsten wirkt ganz Balingen wie ausgestorben.

Ganz Balingen? Nein, eine kleine Gruppe Unbeugsamer hat sich am Stadtbrunnen versammelt, es sind sieben, vielleicht acht Leute. Sie stehen dort an einem Klapptisch, mit einer Spendenbüchse, in dicken Wintermänteln. Und sie haben ein großes Transparent dabei: "Weg mit den Hartz-Gesetzen! Montag ist Tag des Widerstands".

Montagabend: Das ist für Arnulf Rauch ein fester Termin, jede Woche, seit mehr als zehn Jahren. Der Albstädter mit der roten Mütze und der grellgelben Jacke ist Moderator auf der sogenannten Montagsdemo in Balingen, er hat ein Mikro und einen kleinen Lautsprecher mitgebracht. Und er nimmt seinen Job ernst: Um Punkt 18 Uhr, man hört das Glockenleuten der Stadtkirche, gibt er den Startschuss und dreht die Musik auf: Hannes Wader und Konstantin Wecker singen im Duett, ihre Stimmen schallen durch die verwaisten Straßen der Stadt: "Es ist gut, wieder hier zu sein."

Das finden auch Marion Zuckschwerdt und Bernhard Schmidt. Zum wievielten Mal sie hier sind, das können sie nicht genau sagen, es dürfte aber eine Zahl um die 500 sein. "Auch bei den widrigsten Bedingungen kommen wir", sagt Schmidt, der Lehrer ist und Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands. Schmidt und Zuckschwerdt finden, man müsse etwas tun, für eine bessere Zukunft, für mehr Gerechtigkeit: "Wenn man sich die Welt anschaut, gibt es genug Gründe, auf die Straße zu gehen", sagt Zuckschwerdt.

Auf die Straße gehen: Das tun derzeit viele in Deutschland, vor allem in Dresden, wo die Pegida-Bewegung zu hause ist und jeden Montag Tausende gegen die vermeintliche Islamisierung des Abendlandes demonstrieren. Mit Pegida, das wird schnell klar, wollen Zuckschwerdt, Rauch, Schmidt und die anderen nichts zu tun haben. "Wir sind natürlich nicht die gleichen Leute, die in Dresden demonstrieren", sagt Zuckschwerdt. Pegida sei eine "rassistische Bewegung", verbreite Vorurteile und habe sich "auf den Montag einfach draufgesetzt". Und Rauch sagt: "Wir haben schon manch eine Bewegung kommen und gehen sehen."

Tatsächlich hat die Balinger Demo einen ganz anderen Hintergrund als Pegida. Sie ist Teil einer bundesweiten Kampagne, der "bundesweiten Montagsdemo", die seit 2004 existiert. Den Anstoß für die Protest-Kampagne gaben damals die von Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner rot-grünen Koalition verabschiedeten Sozialreformen, die unter der Losung "Agenda 2010" bekannt wurden. Insbesondere die Einführung von "Hartz IV" und die damit verbunden Kürzungen der Sozialleistungen trieben damals Hundertausende Menschen auf die Straßen.

Heute geht es um mehr als nur um Hartz IV

Diese Zeiten sind vorbei. Längst haben sich die Menschen anderen Themen zugewandt, die "Islamisierung" zieht stärker als Hartz IV. Dennoch gibt es sie noch, die bundesweiten Montagsdemos, jede Woche, im ganzen Land: in Stuttgart, Hamburg, Gera, Essen oder Balingen. "Wenn es uns nicht gäbe, ginge keiner mehr gegen Hartz IV auf die Straße", sagt Rauch.

Unter den wenigen, die noch kommen, ist auch Michael Meier. Man könnte ihn als Betroffenen bezeichnen, denn er bekommt Hartz IV, seit einer gefühlten Ewigkeit. Der gelernte Bankkaufmann ist seit weit mehr als zehn Jahren arbeitslos, er lebt in einer 35-Quadratmeter-Wohnung in Balingen, mit 399 Euro im Monat. "Vor 15 Jahren hatte ich ein Einfamilienhaus", erzählt er. "Nach der Umstellung auf Hartz IV konnte ich mir den Unterhalt nicht mehr leisten. Ich musste das Haus verkaufen." Jetzt, mit 62 Jahren, hat er die Hoffnung auf Arbeit aufgeben: "Ich habe da natürlich gar keine Chance mehr."

Warum aber kommen nur noch so wenige zu den Montagsdemos? Das könnte auch daran liegen, dass es mittlerweile um weit mehr geht als um die Kritik an Kürzungen im Sozialen. "Die Leute können alles ansprechen, was sie wollen", erklärt Rauch das Prinzip des offenen Mikrofons. Die Folge: Ein wildes Potpourri an Themen: von Hartz IV über den Islamischen Staat bis hin zum – ja, auch das – Schutz des indonesischen Orang-Utan.

In Balingen ist es jetzt kurz vor sieben Uhr. Hannes Wader und Konstantin Wecker haben aufgehört zu singen. Arnulf Rauch und die anderen packen Lautsprecher und Mikrofon wieder ein. In die Spendenbox hat heute leider niemand etwas geworfen. Immerhin aber hat es aufgehört zu regnen.