Alkoholsucht: Im Vollrausch sticht ein Mann zweimal auf seinen Bruder ein. Foto: BortN66 – stock.adobe.com

Mann legt Geständnis ab und akzeptiert Urteil. Bewährungsstrafe: Gericht fordert Suchttherapie.

Albstadt/Hechingen - Ein trostloser Silvesterabend im Jahr 2015: Zwei Brüder betrinken sich. Am Ende sticht der Jüngere dem Älteren zweimal mit einem Küchenmesser in den Rücken. Das Hechinger Gericht hatte am Dienstag die Aufgabe, diese im Vollrausch begangene Tat angemessen zu beurteilen.

"Wir vertragen uns wieder richtig gut": So beschreibt der 28-jährige Angeklagte aus Albstadt das momentane Verhältnis zu seinem zwei Jahre jüngeren Bruder. Beide trinken seit Jahren, und sie trinken viel.

Am Silvesterabend 2015 waren die Beiden gemeinsam unterwegs. Der Angeklagte gibt vor Gericht an, was er getrunken habe: ungefähr zehn Flaschen Bier, mehrere Schnäpse und auch Whiskey-Cola.

"Ich stech dich ab!"

Am späten Abend ging er in die Wohnung eines Freundes. Zwei Stunden später folgte ihm sein jüngerer Bruder. Gemeinsam tranken sie mit dem 57-Jährigen, bei dem sie in den zwei vorangegangenen Tagen geschlafen hatten, weiter – Bier und Schnaps.

Was sich im weiteren Verlauf dieser Nacht abspielte, hat der 57-Jährige nach der Tat der Polizei zu Protokoll gegeben. Der Mann befindet sich momentan gesundheitsbedingt in einem Pflegeheim und ist laut seinem rechtlichen Betreuer desorientiert und nicht fähig vor Gericht auszusagen. Der Richter verlas daher seine damalige Aussage.

Beide Brüder hätten schon öfter bei dem Mann geschlafen, er sei ein Ex-Freund der inzwischen verstorbenen Mutter. Der jüngere Bruder sei in dieser Nacht sofort auf den älteren losgegangen. "Warum bist du aus dem Bierstadl abgehauen? Warum hast du mich mit der Rechnung sitzen lassen?", habe er gerufen. Es sei öfter vorgekommen, dass die Brüder sich wegen Geld stritten: "Immer wenn es Zahltag gibt beim Amt, dann streiten sie sich wegen dem Geld." Beide Brüder sind seit einigen Jahren arbeitslos und auf staatliche Unterstützung angewiesen.

Der jüngere Bruder habe noch ein "schlimmes Wort" gesagt. Daraufhin habe der Angeklagte die Küchenschublade aufgerissen und nach mehreren Messer gegriffen. Der Streit eskalierte und verlagerte sich irgendwann bis zur Haustür. Dem 57-Jährigen sei es nicht gelungen zu schlichten. An der Haustür habe der Angeklagte geschrien: "Ich stech dich ab, du Schwein!" Woraufhin der Bruder erwiderte: "Bring mich doch um, du Arschloch!" Der Angeklagte stieß das Messer zweimal in den Rücken des Opfers.

Laut medizinischem Gutachten beim zweiten Mal so wuchtig, dass eine sieben Zentimer tiefe Wunde entstand und das Messer nur vom Knochen des Schulterblatts gestoppt wurde. Dieser Angriff hätte mit weniger Glück durchaus lebensgefährlich sein können, so die medizinische Einschätzung. Als der Angeklagte das Blut sah, ließ er von seinem Bruder ab. Er wurde noch in der selben Nacht verhaftet und kam für drei Monate in Untersuchungshaft.

"Ich wollte meinen Bruder nicht so verletzen, ich wollte ihn auch nicht töten", beteuert er vor Gericht und gesteht in vollem Umfang. Er habe sich mehrfach bei seinem Bruder entschuldigt: "Ich wollte das nie und bereue es."

Zehn Flaschen Bier täglich

Es habe eine Weile gedauert, bis der Bruder ihm verziehen hätte. "Inzwischen verprügeln wir uns nicht mehr gegenseitig." Beide Männer wohnen inzwischen auch im gleichen Haus.

Das Thema Alkoholmissbrauch zieht sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte der Brüder. Bereits die Eltern hätten oft und viel getrunken. Als Kinder hätten sie unter körperlichen Misshandlungen beider Elternteile gelitten. Schon in frühen Jahren kamen sie in Pflegefamilien und ins Erziehungsheim. Der Angeklagte gibt an, früher "locker zehn Flaschen Bier täglich" getrunken zu haben. Inzwischen seien es drei bis vier. Zudem noch Schnaps. Gut zwei Flaschen am Tag, die man aber meist zu dritt oder viert trinken würde.

"Mehr Glück als Verstand"

Der Angeklagte beteuert: "Ich will mein Leben umkrempeln. So kann kein Kind aufwachsen." Er und seine Freundin erwarten Nachwuchs. Die Staatsanwältin erwidert: "Kluge Einsicht. Denken Sie an Ihre eigene Kindheit. Das sollte man nicht wiederholen."

Ein psychologischer Gutachter kommt vor Gericht zu der Erkenntnis: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte aufgrund seines alkoholisierten Zustandes zur Tatzeit schuldunfähig war. Daher plädiert die Staatsanwältin dafür, die Tat als eine im Vollrausch begangene zu bewerten und dementsprechend ein Strafmaß von einem Jahr und fünf Monate auf Bewährung anzusetzen. Nur dem Zufall sei es zu verdanken, dass die Tat so glimpfliche Folgen hatte: "Sie hatten mehr Glück als Verstand".

Das Gericht verurteilt den Mann letztlich aufgrund der "schwerwiegenden Rauschtat" zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung. Die Bewährungsstrafe ist allerdings an eine Weisung gekoppelt: Der Mann hat sich einer stationären Alkohollangzeittherapie zu unterziehen. Sie soll ihm helfen, seine Krankheit unter Kontrolle zu bringen. Der Richter verabschiedet den Mann mit den Worten: "Machen Sie’s gut, nutzen Sie diese Chance. Das ist wichtig."