Vor dem Tübinger Landgericht ging der Prozess um das Bad Wildbader Beziehungsdrama weiter. Foto: Martin Bernklau

Wie Wahrnehmungen sich verschieben können: Prozess um das Bad Wildbader Beziehungsdrama geht weiter.

Tübingen/Bad Wildbad - Der Vater hatte den ganzen Gewaltausbruch mehr als nur mitbekommen. Im Prozess um den eskalierten Ehestreit in einem Wildbader Restaurant hat am Donnerstag der 79-jährige Schwiegervater des Angeklagten vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Tübingen ausgesagt. Dem 46-jährigen Gastronomen wird versuchter Totschlag vorgeworfen.

Eigentlich wäre er der optimale Zeuge. Trotz seines Alters und seines starken italienischen Akzents ist Carlo C. absolut präsent, sprachlich gewandt und sehr bestimmt in seinen Aussagen. Er ist schlank und mittelgroß, zwar nicht übertrieben kräftig, wirkt aber doch noch so fit, dass es durchaus glaubhaft scheint, wie er mit massivem körperlichem Einsatz möglicherweise Schlimmeres verhindert haben will, als sein Schwiegersohn die Tochter in rasendem Zorn angegriffen hatte: "Ich habe alles versucht, ihn festgehalten, gekämpft."

Zusammen mit seiner Tochter war der frühere Oberkellner an einem Samstagmittag im August vergangenen Jahres ins Büro des Restaurants bestellt worden, wo der Gastronom seine Ehefrau mit dem Vorwurf konfrontieren wollte, ein außereheliches Verhältnis zu haben. Als die 37-Jährige die Affäre umstandslos einräumte, sei der gebürtige Sizilianer ausgerastet: "Er hat ab diesem Moment den Verstand verloren", sagte sein Schwiegervater im Zeugenstand.

Ob der folgende Gewaltausbruch auch als versuchter Totschlag zu werten ist, weil der Mann neben Schlägen, Tritten und Beschimpfungen eine Gasflasche geöffnet, seine Frau mit Benzin beschüttet habe und im Begriff gewesen sei sie anzuzünden, dazu konnte die Aussage des Schwiegervaters wahrscheinlich trotzdem nicht entscheidend beitragen.

Die Schilderungen des 79-Jährigen wertete einer der beiden Verteidiger anschließend als Beleg dafür, "wie sich Wahrnehmungen verschieben können". Er wies nicht nur auf Widersprüche zu den Aussagen der Tochter hin, sondern auch auf die Protokolle zweier Vernehmungen durch einen Polizeibeamten und einen Richter – mit gegensätzlichen Angaben in wenigen, aber womöglich für den Vorwurf der versuchten Tötung wesentlichen Punkten. "Das habe ich so nicht gesagt", widersprach der Schwiegervater etwa dem Vorhalt aus den Akten, der Angeklagte habe einen Gashahn aufgedreht, er selbst die Flasche wieder verschlossen.

Ohne genau diese protokollierten Aussagen bei der damaligen richterlichen Vernehmung, so warf der Vorsitzende Richter Ulrich Polachowski ein, "wäre es nicht zu dieser Anklage gekommen".

Zunächst hatte der Mann seine hohe Wertschätzung des Schwiegersohns bis zum Tag des Geschehens ausgedrückt, dieser "Explosion", wie er den Ausbruch nannte. "Sehr beliebt bei den Gästen" sei er gewesen, habe als Gastronom "fantastische Sachen gemacht, viel geleistet". Dass die wüsten Beschimpfungen des Betrogenen bis hin zu Todesdrohungen gegen seine Frau gingen, bestätigte der Zeuge zwar. Er nannte das mehrfach auf Italienisch ausgestoßene "T’amazzo!" (Ich bring dich um!) aber eine nicht wörtlich gemeinte Wutäußerung, die auch bei Deutschen in solch einem Zorn mal falle.

Er habe, versicherte der Zeuge, selbst keine Anzeige gegen seinen Schwiegersohn erstatten wollen, nachdem der Tobende überwältigt worden war: "Das war nicht er!", verteidigte er ihn und äußerte ein gewisses Verständnis für das Ausrasten. Mit weiteren Teilen seiner Aussage belastete er den Angeklagten allerdings wiederum indirekt. Neben den geänderten Schilderungen um die Gasflasche bekräftigte er, dass der Wütende das Benzin aus einem – später gegen die Ehefrau geworfenen – Kanister auch aktiv "verspritzt" habe. Und auch an ein Feuerzeug in der Hand des Rasenden will er sich nach wie vor erinnern.

Wegen der drohenden Gefahr für alle habe er seinen Schwiegersohn "in den Schwitzkasten genommen", ihn zwischenzeitlich sogar beruhigen können und danach über den Vorraum auf die Terrasse gedrängt, während er seine Tochter aufforderte, wegzulaufen ("Scappa!") und die Polizei zu rufen. Die Tochter kam danach allerdings auch auf die Restaurant-Terrasse und war dort weiteren tätlichen Angriffen ihres Ehemanns ausgesetzt.

Die Verteidigung äußerte generelle Zweifel an der Zuverlässigkeit und Verwertbarkeit dieser Aussagen des Schwiegervaters. Sie beantragte auch ein Verwertungsverbot für ein Handy-Video, das herbeigeeilte Passanten vom Ende der Auseinandersetzung und einer ersten Vernehmung durch einen Polizisten aufgenommen hatten.

Vor den dabei offenbar zu hörenden weiteren Todesdrohungen sei der immer noch heftig erregte Angeklagte nicht über seine Rechte belehrt worden.