Lea Ammertal las im Quellenhof aus ihrem neuen Buch "Lesereise" zum Thema "Erinnern oder ganz schnell vergessen?". Foto: Bechtle Foto: Schwarzwälder-Bote

Lesung: Lea Ammertal referiert im Quellenhof Bad Wildbad über das Thema "Erinnern oder schnell vergessen?"

Es ist ein immer wiederkehrendes Phänomen, das jeden Menschen durchs Leben begleitet: besondere Ereignisse des eigenen Lebens zu verdrängen, zu vergessen oder sich an sie regelmäßig oder auch gerne zu erinnern.

Bad Wildbad. Häufig sind es Erlebnisse der Vergangenheit, die man aus der Distanz viele gelebter Jahre anders sieht und beurteilt.

So gesehen darf man eine Veranstaltung der Volkshochschule Calw (VHS) im Bad Wildbader Quellenhof am vergangenen Freitagabend sicherlich auch als besonderes Ereignis herausheben. "Erinnern oder schnell vergessen?" war das Thema, dem sich die Vortragende und Referentin Lea Ammertal gemeinsam mit den wenigen örtlichen Zuhörern und Gesprächspartnern widmete.

Ammertal, die im Oberreichenbacher Ortsteil Würzbach lebt, ist ein Multitalent mit Herz. In Bad Wildbad ist die Autorin und Schauspielerin schon lange bekannt. Überzeugend und authentisch verkörpert sie historische Persönlichkeiten und lässt sie lebendig werden. Als Clara Schumann führt sie mit einem literarischen Spaziergang die Besucher durch den Kurpark entlang der Enz. Sie ist die fiktive Badefrau Caroline, die Rossini bei seinem Wildbad-Aufenthalt bedient oder schließlich ein Kräuterweiblein auf dem neuen Märchenpfad auf dem Sommerberg, wo sie die Lisbeth aus Hauffs Märchen "Das kalte Herz" lebendig werden lässt. Aber Ammertal ist mehr, sie ist durch und durch Künstlerin, Schriftstellerin, Regisseurin, szenische Trainerin, Moderatorin und in gewissem Sinn auch Philosophin und Psychologin.

Einwirkungen von außen verursachen Veränderungen

Zum Beginn ihrer Lesung zeigte sie grafisch mit zwei miteinander verbundenen Spiralen auf, wie, vom Mittelpunkt ausgehend, ein Neugeborenes zuerst nur sich selbst ist, und dann im Laufe der Jahre viele von außen kommenden Eindrücke aufnimmt. Und umgekehrt, auf den erwachsenen, reifen und vor allem älteren Menschen verursachen die Einwirkungen von außen Veränderungen im Denken und Handeln und führen zu einer inneren Teilnahme, bei der man dann vor dem Problem steht: Erinnern oder gleich vergessen?

Seit rund zwei Jahrzehnten ist Ammertal ehrenamtlich in einem Seniorenheim tätig, und ihre erste am Vortragsabend gelesene Geschichte, die man auch in ihrem im Mai erschienenen Büchlein "Lesereise" findet, nennt sich "Mutters Handtaschenflucht." Diese anrührende Erinnerung hat kein Happy End, sondern lässt die Frage offen, warum die Handtasche, in die Mutter immer wieder bei einer Problemstellung griff, nach ihrem Tod weder Kalender noch Spiegel oder irgendwelche Kosmetika enthielt, sondern nur eine große Anzahl von Zuckertütchen. War der Griff in die Handtasche also nur eine Verlegenheitslösung? Oder ein Versuch des Vergessens oder Erinnerns?

Das Nachempfinden ihrer eigenen Lesereise, gemeinsam mit einigen anderen Autorinnen, von Karlsruhe nach Halle, in ihrem Prosatext "Die Lesereise" lässt den Zuhörer gleichermaßen mitempfinden, schmunzeln oder nachdenklich werden. Und eigene Erinnerungen über ähnliche Vorkommnisse tauchen dann auf.

Oft ist ein Fotoalbum oder ein Brief eine Brücke zur Vergangenheit und besondere Familienereignisse sowie eigene Geschichten von früher tauchen auf und werden wieder gegenwärtig.

Dabei kommt dem Menschen zustatten, dass man Erlebnisse von früher im Rückblick anders beurteilt, aufgrund der jetzigen Situation und seiner Erfahrungen.

In einer Gesprächsrunde der Zuhörer untereinander und mit Ammertal wurde deutlich, dass der persönliche Hintergrund bei der Frage "Erinnern oder rasch vergessen?" eine wesentliche Rolle spielt. So konnte man auch die zum Abschluss gelesene (und gespielte) Geschichte "Calwer Bahnsteig-Blues" unterschiedlich empfinden und beurteilen.