Eine undatierte Aufnahme des deutschen Schriftstellers Hermann Hesse bei der Lektüre in seinem Arbeitszimmer in Montagnola. Er ist bis heute ein Bestseller-Autor. Foto: dpa

Autor Matthias Hilbert erzählt, wie Hermann Hesse in Bad Cannstatt litt, trank, rauchte und Examen machte


Stuttgart – Matthias Hilbert hat das Buch „Hermann Hesse und sein Elternhaus – Zwischen Rebellion und Liebe“ geschrieben. Darin widmet er sich auch Hesses Zeit in Bad Cannstatt.

Herr Hilbert, mussten Sie als Schüler Hermann Hesse lesen?
Nein. Musste ich nicht. Da bin ich völlig unvorbelastet.

Sie sind Lehrer im Ruhestand: Mussten Ihre Schüler Hesse lesen?
Nein, auch nicht. Zumal ich an einer Hauptschule, später an einer Grundschule unterrichtet habe, da ist das nicht vorgesehen.

Hätten Sie Hesse gern als Schüler gehabt?
Oh, das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn ich den richtigen Zugang zu ihm gefunden hätte, wäre das sicherlich eine äußerst interessante Lehrer-Schüler-Beziehung gewesen. Hätte ich aber keinen Draht zu ihm gehabt, dann hätte es Probleme gegeben.

Hesse durchlebte eine Pubertätskrise, war gar psychisch krank. Gibt es heute noch Schüler wie ihn, oder war das ein Phänomen der Zeit?
Sicher ist die Pubertät auch heute für Jugendliche schwierig, aber die Probleme, die Hesse in seiner Schulzeit durchleben musste, die waren gewiss spezifisch für seine Zeit und die damaligen Verhältnisse.

Hesse kritisiert in vielen Büchern, vor allem in „Unterm Rad“, das Schulwesen um 1900. Wie beurteilen Sie als Lehrer das damalige System?
Die Lehrer standen damals in einer großen Distanz zu ihren Schülern. Zudem züchtigten einige Lehrer die Schüler noch oft und gern. Es wurde nicht nur geschlagen: besonders gefürchtet waren die sogenannten Tatzen. Dabei schlug der Lehrer dem Schüler mit einem Stock mehrere Male kräftig auf die ausgestreckten Finger.

„Seine Kindheit beschreibt er als Paradies“


Sie haben in Ihrem Buch die gängige Expertenmeinung widerlegt, dass die pietistischen Eltern schuld an Hesses Psychose waren. Müssen Sie sich als Lehrer dagegen verwehren, dass die Erziehung an allem schuld ist?
Nein, das nicht. Aber ich konnte das Elternhaus Hesses vielleicht insofern besser verstehen, weil ich selbst aus einer Pastorenfamilie stamme, also auch ein gewisses frommes Milieu kenne. Zu der Zeit, als ich mich mit Hesse beschäftigte, hatte ich zudem auch gewisse Erziehungsprobleme mit meinem damals in der Pubertät steckenden Jungen. Das führte zu einem Perspektivwechsel: Ich habe – neben Hesse – auch die Position der Eltern bewusst wahrgenommen.

Was haben Sie herausgefunden?
Dass Hermann Hesse es den beharrlichen Liebesbemühungen seiner Eltern zu verdanken hat, dass er aus seiner schweren Pubertätskrise – er hat sogar einen Selbstmordversuch begangen und war eine Weile in einer Nervenheilanstalt – herausgefunden hat. Und dass es nicht umgekehrt war, wie oft behauptet wird: Die Eltern haben Hermann Hesse nicht in diese Krise hineingetrieben.

Worauf stützen Sie diese These?
Auf Quellenmaterial wie Briefe und andere Selbstzeugnisse. Ich habe später festgestellt, dass Hesse an keiner Stelle den Eltern wegen seiner Krise Vorwürfe gemacht hat. Er hat früh begonnen, ein Hohelied auf seine Eltern zu schreiben. Seine Kindheit beschreibt er als Paradies.

Von November 1892 bis Oktober 1893 besuchte Hesse das Gymnasium in Bad Cannstatt.
Ja, das ist heute das Johannes-Kepler-Gymnasium an der Mercedesstraße. Die Schule war vor Hesses Besuch eine sogenannte Lateinschule. Sie wurde 1891 zum Gymnasium erhoben. In Hesses Heimatstadt Calw gab es kein Gymnasium.

Deswegen musste er als knapp 15-Jähriger allein in der Fremde leben . . .
. . . das kann man so nicht sagen. Er hat in der Pension eines Ehepaars namens Geiger gewohnt. Herr Geiger war Lehrer, seine Frau hat die Schülerpension betrieben. Damit Hermann Hesse sich nicht mit anderen Jungs ein Zimmer teilen musste – was ihm sehr widerstrebte –, wurde ihm ein Dachstübchen gegenüber bei einer Witwe namens Frieda Montigel angeboten. Dass seine Eltern Hesse diesen Schulbesuch ermöglichten, war noch ein zusätzliches Opfer, das sie brachten. Denn der Pensionspreis für ein Schuljahr betrug 800 Mark. Die Eltern haben alles versucht, um Hesse Perspektiven für die Zukunft zu ermöglichen.

„Wenn du keinen Kredit gibst, gibt es Krach hier“, ließ Hesse seinen Vater wissen


Hat Hesse diese Chance genutzt?
Nun, wie soll ich sagen: Er hat in seiner Zeit in Bad Cannstatt die Sau rausgelassen. Er hatte unguten Umgang mit älteren Jugendlichen, hielt sich mit 15 Jahren viel in Wirtshäusern auf, trank und rauchte. Und er machte Schulden. Woraufhin er den Vater knallhart wissen ließ: „Wenn du keinen Kredit gibst, gibt es Krach hier.“ Er hat sich so danebenbenommen, dass Geigers und Frieda Montigel ernsthaft daran dachten, ihn zu entlassen, weil er nicht mehr tragbar war.

War er wenigstens ein guter Schüler?
In der Schule hat er sich außer für Latein und Musik für nichts interessiert. Das ging ihm alles am Senkel vorbei. Er war mit seiner Person und mit seiner eigenen Perspektive beschäftigt. Er wollte schon damals „‚nur Dichter werden und sonst nichts“. Es ist erstaunlich, dass er doch noch die Obersekundareife mit Ach und Krach geschafft hat.

Kann man rückblickend sagen, dass Bad Cannstatt Hesses Sündenpfuhl war?
Ja, das kann man durchaus.

Er litt dort aber auch heftig . . .
Das ist richtig. Er hatte auch in Bad Cannstatt häufig unter depressiven Stimmungen und psychosomatischen Erkrankungen zu leiden. Besonders Kopfschmerzen haben ihm zugesetzt. Die junge Frau, die er in Bad Boll verehrt und derentwegen er einen Selbstmordversuch gemacht hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. In solch einer Phase hat er sich in Stuttgart im Tausch gegen Bücher einen Revolver besorgt. Er hat seine Eltern davon wissen lassen, woraufhin die Mutter sich sofort zu ihrem Sohn aufgemacht hat.

Ein Rezensent Ihres Buches schrieb: „Hesse hat genau die Kindheit gehabt, die er brauchte, um der zu werden, der er geworden ist.“ Schließen Sie sich der Meinung an?
Ja, der schließe ich mich voll an.
Matthias Hilbert: Hermann Hesse und sein Elternhaus – Zwischen Rebellion und Liebe. Calwer-Verlag, 292 Seiten, 15 Euro.