Gunter Demnig verlegte in der Hengstetter Straße 2 in Ottenbronn einen Stolperstein für Helmut Großhans. Der damals 13-jährige Junge wurde als Opfer der so genannten T 4-Aktion in Grafenau ermordet. Foto: Selent-Witowski Foto: Schwarzwälder-Bote

13-Jähriger wird 1940 ein Opfer der T4-Aktion in Grafeneck / Künstler Gunter Demnig setzt kreisweit ersten Stolperstein

Von Marion Selent-Witowski

Althengstett-Ottenbronn. Fast 73 Jahre nach seiner Ermordung bekam Helmut Großhans, eines von Tausenden Opfern der NS-Euthanasie, seine Ehre wieder. In der Hengstetter Straße 2 in Ottenbronn erinnert ein so genannter Stolperstein jetzt an das Schicksal des damals 13-Jährigen.

Die Sonne strahlt am Donnerstagmorgen über Ottenbronn und kündigt einen freundlichen Sommertag an. Nach und nach versammeln sich immer mehr Menschen vor dem Gebäude Hengstetter Straße 2. Sie geben sich zur Begrüßung die Hand oder umarmen sich. In der Hofeinfahrt stehen Holztische, auf denen Getränke und Gebäck abgestellt werden. Am Garagentor hängt ein Plakat, auf dem Fotografien von Gebäuden und alte Aufnahmen einer Familie befestigt wurden. Ein vergrößertes Motiv zeigt einen lächelnden Jungen: Helmut Großhans.

Seinetwegen sind die rund 50 Besucher, darunter Gemeinderäte, Pfarrer Klaus Dietrich Wachlin, Ortsvorsteher Richard Dipper und Landratstellvertreter Frank Wiehe, zusammengekommen. Sie erleben mit, wie Künstler Gunter Demnig einen so genannten Stolperstein auf dem Gehweg vor dem Gebäude verlegt, wollen gemeinsam einem Menschen seinen Namen, seine Würde und Geschichte zurückgeben. Helmut Großhans wurde am 9. Mai 1927 in Calw geboren, lebte mit seinen Eltern Bertha und Johann in Ottenbronn, wurde in der Diakonie Stetten betreut und am 10. September 1940, als Opfer der T 4-Aktion, in Grafeneck ermordet.

In jenem Jahr wurden in Grafeneck 10 654 Menschen getötet. Die Opfer – in der Regel Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung – stammten aus 48 Heil- und Pflegeeinrichtungen des heutigen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Die Männer, Frauen und Kinder wurden in einer Gaskammer auf dem Gelände des Schlosses mit Kohlenmonoxid ermordet.

Im Oktober 1939 hatte das Württembergische Innenministerium in Stuttgart die bestehende Behinderteneinrichtung in Grafeneck "für Zwecke des Reichs" beschlagnahmt und in eine Mordanstalt umgewandelt. Am 18. Januar 1940 begannen auf dem Gelände des Gebäudes die NS-Euthanasie-Morde. Diese wurden von den Tätern – nach dem Sitz der zentralen Planungsbehörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin – als "Aktion T4" bezeichnet.

"Helmut Großhans besuchte den Kindergarten und danach die Schule, die er nach vier Monaten wieder verlassen musste. Er wurde als schwachsinnig und bildungsunfähig bezeichnet", berichtet Brigitte Weber. Gemeinsam mit Ehemann Hartmut Weber hat sie das Verlegen des Stolpersteins initiiert. Beide wissen seit einiger Zeit, dass Helmut Großhans in ihrem Haus gelebt hat. Da sie selbst ein behindertes Kind haben, machten sich beide Gedanken, wie ein Zeichen der Erinnerung sowie ein Mahnmal gesetzt werden kann und stießen auf die Aktion "Stolpersteine" von Gunter Demnig.

Bekannt wurde Demnig durch die seit 1994 von ihm geschaffenen Stolpersteine für diejenigen, die in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert und meist ermordet wurden. Die Steine versieht er mit den Namen der Opfer und verlegt sie vor deren einstigen Wohnungen im Straßen- oder Gehwegpflaster. Das Projekt hat sich inzwischen mit 40  000 Steinen (Stand: Juli 2013) in etwa 750 Orten in zehn Ländern Europas zum weltweit größten dezentralen Mahnmal entwickelt.

Vor dem Gebäude herrscht nach wie vor andächtiges Schweigen. Tief betroffen hören die Umstehenden die Geschichte des Jungen, "der nicht hier leben durfte und dem jeglicher Lebenswert abgesprochen wurde", sagt Brigitte Weber. Bürgermeister Clemens Götz fasst schließlich seine Empfindungen in Worte und spricht damit den Umstehenden aus dem Herzen.

Er empfinde Traurigkeit, für einen 13-jährigen Jungen, der nur deshalb sterben musste, weil er nicht genau gleich wie die anderen war. Zugleich fühle er aber auch Erleichterung und Schuld, weil er in einem Land und in einer Gesellschaftsordnung lebe, wo Vielfalt, Andersartigkeit und Behinderung zugelassen sind. Verwaltung und Gemeinderat würden sich bemühen, die Mittel gerecht zwischen Alten, Behinderten, Kindergärten oder für den ÖPNV und Weiteres zu verteilen, was nicht immer gelinge. "Der Stolperstein erinnert uns, er mahnt uns, er fordert von uns, sich immer wieder zu fragen, ob man sein Bestes gibt, damit wir eine Gesellschaft sind, wo alle Menschen in Würde leben können".

Gunter Demnig hat während der Ansprachen mit ruhigen Handbewegungen den Stolperstein für Helmut Großhans befestigt und schiebt mit einem Besen die letzten Asphaltkrümel beiseite. Noch einige Zeit stehen dann alle vor dem Haus zusammen und unterhalten sich über die bewegenden Momente. Für Demnig geht es bald schon wieder weiter: Auf der Ladefläche seines Fahrzeugs reiht sich Stolperstein an Stolperstein. Auch andernorts soll an Menschen erinnert werden, die das das selbe Schicksal wie Helmut Großhans haben.