"Nicht verurteilen und nicht in Schutz nehmen": Dekan Anton Bock betrachtet ein grausames Verbrechen und seine Folgen durch die Brille des Christen und des Seelsorgers. Foto: Eyrich

Nach Suizid des mutmaßlichen Doppelmörders: Dekan Anton Bock über Schuld und die Bedeutung von Reue.

Albstadt - Völlig unerwartet hat sich der 46-Jährige Albstädter, angeklagt des Mordes an einem älteren Ehepaar im März, in der Nacht zum Montag das Leben genommen – und lässt viele Albstädter verstört zurück, denn der Fall wird nun nicht mehr vor Gericht aufgearbeitet. Es ist schwer, Antworten auf die Fragen zu finden, die nun ganz Albstadt bewegen. Der Schwarzwälder Bote hat Dekan Anton Bock gebeten, es dennoch zu versuchen. 

Herr Dekan Bock, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Selbsttötung des mutmaßlichen Doppelmörders erfahren haben? 

Nun, ich kann mich in ihn nicht hineinversetzen. Es ist mir unmöglich zu verstehen, wie er sich während und nach der Tat, die ihm vorgeworfen wurde, verhalten hat. Wenn er aber fähig war, seine Tat zu reflektieren, kann ich nachvollziehen, dass ihn der Gedanke nach einem Suizid umgetrieben hat: Für ihn gab es keine Zukunftsperspektive mehr. Die nächste Frage, die ich mir stelle, ist jedoch: Wie geht es denjenigen, die mit dem Leid und dem Verlust ihrer Eltern umgehen müssen? Der mutmaßliche Täter hat sie in der Unbegreiflichkeit seines Handelns hilflos zurückgelassen und sich seiner Verantwortung entzogen. 

Vergebung ist ein wesentlicher Teil der christlichen Lehre. Doch ist in einem solchen Fall Vergebung überhaupt möglich? 

Im Angesicht der Opfer kann das keinesfalls das erste Thema sein, sondern nur aus der Distanz. Für die Hinterbliebenen wäre es wichtig gewesen, zu erleben, dass der Mensch, der ihnen ihren Schmerz zugefügt hat, diesen Schmerz spürt. Schon für ihren Heilungsprozess der Trauer. Das jedoch setzt die Selbsterkenntnis des Täters voraus. 

Gerade den Medien wird vorgeworfen, dass sie sich mehr mit den Tätern als mit den Opfern beschäftigen. Warum ist die Auseinandersetzung mit dem Täter dennoch wichtig? 

Die Rechtssprechung in Deutschland berücksichtigt nicht nur die Tat selbst, sondern auch die Beweggründe. Wie kommt jemand dazu, so etwas zu tun? Das zu analysieren heißt nicht, dass wir die Tat selbst entschuldigen. Dennoch ist es gewissermaßen präventiv wichtig, dass wir versuchen zu verstehen, was einen Täter zu seiner Tat gebracht hat. Als Seelsorger müssen wir versuchen, sensibel zu sein, ohne zu verurteilen und ohne jemanden in Schutz zu nehmen. Aus der Sicht der Hinterbliebenen eines Gewaltopfers könnte ich das Bedürfnis nach Rache und die tiefe innere Wut verstehen. Diese Wut und auch den Hass gegenüber einem Täter muss ich erst einmal zulassen.

Es gab nicht wenige Stimmen in den vergangenen sechs Monaten, die dem mutmaßlichen Täter alles Übel gewünscht haben...

In unserer demokratischen Kultur und vor dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes haben wir ein Rechtssystem entwickelt, das nicht auf dem Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" basiert, also nicht das Prinzip der Vergeltung, sondern der Vorbeugung und Vermeidung von weiterem Schaden gilt. Als Christ bin ich davon überzeugt: Jesus hat uns vorgelebt, dass es möglich ist, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Für die Opfer von Gewalt ist der Blick auf Jesus auch eine Chance, Hilfe, Verständnis und Trost zu erfahren. Auch er hat unschuldig am Kreuz großes Leid erduldet und nicht mit Gewalt geantwortet. 

Was würden Sie als Seelsorger den Hinterbliebenen des ermordeten Ehepaares sagen?

Ich würde sie ermutigen, psychologische und seelsorgerliche Betreuung zu suchen, wenn sie mit Wut, Angst und Trauer an ihre Grenzen stoßen. 

Halten Sie es für möglich, diese Wut zu kanalisieren, nun da der Strafprozess ausfällt?

Nach meiner Ansicht ist es für die Angehörigen von Gewaltopfern vor allem entscheidend, dass ein Täter wenigstens um Vergebung bittet, denn eine Wiedergutmachung kann es im Fall eines Mordes ja nicht geben. Die Einsicht des Täters ist wenigstens ein Schritt in Richtung Reue, doch er setzt voraus, dass sich ein Täter in seine Opfer hineinversetzen kann. Zeigt er keinerlei Reue, ist das eine weitere Demütigung der Opfer. Daher hoffe ich, dass Jörg K. fähig war, Reue zu empfinden. Wichtig ist aber auch, dass wir alle nicht in unserem Hass zurückbleiben, sondern uns fragen: Was kann ich selbst tun, dass es nicht zu solchen Taten kommt? 

Halten Sie es für denkbar, dass jeder Mensch – unter entsprechenden Umständen – zu einer solchen Gewalttat fähig ist?

Grundsätzlich: Nein. Zwar bin ich überzeugt, dass Menschen zu vielem fähig sind, wenn sie in ihrem Leben selbst Demütigungen oder Gewalt erfahren haben, dass die meisten aber dennoch nicht gewaltsam reagieren. Es darf kein Automatismus sein, zu tolerieren, dass die Hemmschwelle, Gewalt auszuüben, bei einem Menschen niedriger ist, nur weil er in Schwierigkeiten steckt. Hier wird auch die Angst der Menschen verständlich, die sich fragen: "Wie gehe ich damit um, wenn jemand ausrastet und unberechenbar wird? Gibt es ein Muster, dass so etwas wieder geschehen kann in einer anderen Lebensgeschichte, die in eine Einbahnstraße geraten ist?" 

Halten Sie die Selbsttötung des mutmaßlichen Mörders für ein Schuldeingeständnis? 

Nicht notwendigerweise. Genauso gut kann es ein Verzweiflungsakt gewesen sein. Da sehen wir als Außenstehende nicht hinein. 

Können Sie sich in einen Rechtsanwalt hineinversetzen, der einen mutmaßlichen Mörder verteidigt? 

Unser Rechtssystem sieht Verteidigung vor. Dabei geht es nicht darum, die Tat zu rechtfertigen, sondern dem Täter eine Chance zu geben, sich dem real Geschehenen zu stellen und Mutmaßungen entgegenzutreten. Verantwortungslos fände ich es, wenn ein Verteidiger eine Tat bagatellisierte. Doch angesichts unserer Rechtsgeschichte hat es durchaus seinen Sinn, dass auch ein Mörder die Möglichkeit hat, sich vor Gericht zu verteidigen. 

Was sagen Sie einem Menschen, der Sie als Pfarrer fragt, warum Gott solche Taten zulässt?

(Nach langem Nachdenken): Am Ende steht Gott immer auf der Seite der Schwächeren. Jesus weint mit den Weinenden und will uns damit sagen, dass in den Augen Gottes mehr möglich ist als in der begrenzten Vorstellung der Menschen. Der Gedanke an die Auferstehung derer, der Opfer von Gewalt, sowie die Hoffnung auf ein neues Leben und Heilung unserer Wunden gibt es sogar schon im Alten Testament. Der Theologe Romano Guardini hat einmal einem Freund geschrieben, wenn er einst vor Gott stehe, werde er sich nicht nur fragen lassen, sondern ihn auch fragen und um eine Antwort bitten für all das, was einfach unbegreiflich gewesen sei in diesem Leben. Einem Betroffenen, der mitten in einer solchen Situation steht, kann ich nicht sagen: "Alles im Leben hat seinen Sinn." Schwachheit und Chaos können einen Menschen dazu bringen, dass er schreckliche Dinge tut. Und selbst wenn es in diesem Fall am Ende Rechtsprechung vor einem Gericht gegeben hätte, wäre die Tat irrational geblieben. 

Staatsanwalt Michael Pfohl hat vom schrecklichsten Verbrechen gesprochen, das die Region in der Nachkriegsgeschichte erlebt hat. Hat diese Tat die Menschen in Albstadt verändert? 

Wenn ja, dann wäre es mein Wunsch, dass wir alle uns der Kostbarkeit des Lebens bewusster werden und den Respekt vor dem Leben des Anderen höher achten, auch in vielen kleinen Bereichen: dass wir offene Augen haben für andere und dass wir Menschen nicht darüber definieren, wie viel jemand besitzt. 

Was wünschen Sie den Angehörigen der Opfer? 

Ich wünsche Ihnen, dass sie Linderung finden in der Verwundung ihrer Seele und ihrem Schmerz. Diese Wunde wird ein Teil ihres Lebens bleiben, doch ich wünschen ihnen, dass sie dennoch ihr Leben gestalten können und dass sie nicht zulassen, dass allein der Wunsch nach Vergeltung es bestimmt.