Chris Kühn (stehend) diskutiert im "Carlos" mit (von links) Hans-Dieter Erbrich, Friedrich Rau, Albert Reyer, Christina Reif, Albrecht Dorow und anderen Bürgern. Foto: Eyrich Foto: Schwarzwälder Bote

Innenstädte: Grünen-Bundestagsabgeordneter gibt in Albstadt Denkanstöße für notwendige Schritte

Chris Kühn kommt rum. Deshalb kennt der Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen die Probleme zu wenig belebter Innenstädte und weiß von Beispielen, was dagegen wirkt. Grund genug für die Albstädter Grünen, ihn einzuladen.

Albstadt-Ebingen. Leer stehende Wohnungen und Läden, fehlender Wohnstandard und fehlender sozialer Mix, der ständige Kampf um Parkplätze und um Umsatz bei Einzelhändlern und Gastronomen, ein Boom von Shisha-Bars, Tatoo- und Nagelstudios bei fehlenden Lebensmittelläden, rücksichtslose Falschparker, Vandalismus und sogar Drogenhandel – und nicht zuletzt die fehlende soziale Kontrolle: Viele Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen für die Kommunalwahl am 26. Mai kennen die Probleme in den Innenstädten, auch in Albstadt.

"Es gibt noch weitere Kriterien als nur Straßen, Parkplätze und Grundstücksgestaltung", weiß Friedrich Rau, der mit seinen Architekten-Kollegen kürzlich mit Baubürgermeistermeister Udo Hollauer über den städtebaulichen Entwurf gesprochen hat, den ein Planungsbüro derzeit als Diskussionsgrundlage für die Aufwertung des Ebinger "Hufeisens", des ältesten Wohnviertels, erarbeitet. Rau hat Chris Kühn nicht nur eingeladen, weil er als Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis Tübingen, sondern auch weil er als ehemaliger Tailfinger Albstadt gut kennt – als Kind hat er fünf Jahre dort gewohnt – und weil er als Sprecher für Bau- und Wohnungspolitik seiner Fraktion weiß, wie andere Städte diesen Problemen begegnen.

Sein mit Fakten und Zahlen gespickter Vortrag beeindruckt die Zuhörer im "Carlos", etwa die Zahl, dass rund 50 Prozent der Baden-Württemberger Anspruch auf einen Berechtigungsschein für eine Sozialwohnung hätten.

Kühn bemängelt die fehlende Zusammenarbeit der Landkreise Zollernalb, Tübingen und Reutlingen, durch die sich manches ausgleichen ließe; Stichwort: Wohnungsbau. Und er nennt zahlreiche Instrumente, über die Kommunen bereits verfügten, um die Situation zu entschärfen: Milieuschutz-Satzungen etwa, Modernisierungsgebote und Baugebote für Menschen, die Bauplätze auf Generationen bevorrateten. Mehr Personal für Bauämter und bessere Ausstattung könnten helfen, zentrale Akteure zu stärken und Grundbesitzer zu beraten und zu gewinnen, um die Innenentwicklung voranzutreiben, um die Außenentwicklung auf ein Minimum zu reduzieren und so etwa Baustoffe zu sparen, deren Knappheit ein Grund für die hohen Baukosten sei.

Als weiteren Grund dafür sieht Kühn fehlende Fachkräfte: "Die Politik hat über Jahre gesagt, Deutschland sei fertig gebaut – und die Baufirmen haben Kapazitäten abgebaut." Um neue zu gewinnen, sei es wichtig, Einwanderer zu qualifizieren. "Wer war in den 1960er- und 70er-Jahren auf den Baustellen? Gastarbeiter", betont Kühn. "Es sind die Einwanderungsgesellschaften, die prosperieren."

Er zählt auf, was die Landesregierung zur Stärkung des sozialen Wohnungsbaus getan habe, dessen Bedarf aktuell nur zu 33 Prozent gedeckt sei, und sieht auch im Bund Lichtblicke, etwa in Sachen Städtebauförderung, in deren Topf 2018 rund 790 Millionen Euro geflossen seien. Die Zahlen, mit denen er den Instandhaltungs- und Sanierungsstau in den Kommunen beziffert, liegen hingegen im dreistelligen Milliardenbereich. Deshalb müsse der Bund die Kommunen strukturell entlasten.

Eines macht Kühn anhand zahlreicher Beispiele deutlich: Städte müssten wieder auf Menschen statt auf Autos ausgerichtet werden: "Wo Autos sind, halten sich keine Familien auf", sagte er. "Wo Autos Platz wegnehmen, finden Menschen keinen Platz. Wenn man eine lebendige Innenstadt will, muss man bereit sein, Autos aus der Innenstadt zu nehmen" – Lärm und Abgase sieht er dabei nur als einen Aspekt.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sei die autogerechte Innenstadt das Leitbild gewesen – mit der Folge, dass alte Bausubstanz abgerissen wurde und sechsspurige Straßen durch manche Städte führten. In Sindelfingen habe sich eine Straße mit Geschäften gegen die Schließung für Autos ausgesprochen, eine andere dafür – und dort herrsche weit mehr Publikumsverkehr, so dass nun auch die Händler in der befahrbaren Straße umdächten. "Manche Einzelhändler gehen davon aus, dass man vor der Tür parkt und Waren einlädt" – dass Aufenthaltsqualität aber Kunden bringe, werde oft nicht bedacht.

Mit Blick auf das Hufeisen schlägt Kühn vor, den Versuch zu wagen und einige Straßen für Parkende zu sperren. Kühn outet sich als "großer Freund von Jan Gehl", der das Stadtbild von Kopenhagen stark geprägt habe und "das menschliche Maß in den Mittelpunkt" stelle.

Einen letzten Aspekt wirft Friedrich Rau noch in den Raum: Förderung aus dem Entwicklungsprogramm ländlicher Raum (ELR). Die werde für Innenstadtprojekte nämlich nicht gewährt. Kühn zückt seinen Stift – wie er sich überhaupt vieles notiert beim Besuch in Albstadt.